Regionalseminar Halle und Leipzig 2016

Entstehung, Umgangs- und Nutzungsformen von Leerstand in Halle und Leipzig

Gegen Ende März fand das Regionalseminar „Entstehung, Umgangs- und Nutzungsformen von Leerstand in Halle und Leipzig“ statt. Bevor die 25 Studierenden unter der Leitung von Gregor Arnold nach Ostdeutschland fuhren, um sich vor Ort an praktischen Beispielen und Expertengesprächen einen tieferen Einblick in die Thematik Leerstand in der Stadtentwicklung zu erarbeiten, wurden am Geographischen Institut in Mainz in einem dreitägigen Blockseminar erste theoretische Sichtweisen und Zugänge diskutiert. Jede_r Studierende hielt ein ca. 20 minütiges Referat, welches nach der Regionalexkursion zu einer Hausarbeit ausgearbeitet wurde.

Während des Seminars wurden die demographischen Entwicklungen Ostdeutschlands nach der Wiedervereinigung betrachtet. Dazu wurden Zahlen zu Abwanderung und Alterung der Gesellschaft bei gleichzeitigem Geburtendefizit sowie Zahlen zu Leerstandsausmaßen und Dynamiken schrumpfender Städte zusammengestellt. In den ersten beiden Jahren nach dem Mauerfall sind insgesamt knapp eine Millionen Menschen vor allem in die alten Bundesländer abgewandert. Dies sind ca. 6,2% der damaligen ostdeutschen Bevölkerung (vgl. Busch, Kühn, Steinitz 2009: 43f). Auch die Geburtenziffer sank sprunghaft und landete 1993 mit 0,76 auf einem historischen Tiefstand und kann bis heute die einfache Reproduktion nicht sichern. Aufgrund des fortschreitenden demographischen Schrumpfungsprozesses durch Abwanderung und Geburtendefizit verlor Ostdeutschland bis 2007 ca. 1,97 Mio. Menschen bzw. 13 % (vgl. ebd.: 45).

Durch diese demographischen und damit verbundenen wirtschaftsstrukturellen Schrumpfungsprozesse entwickelten sich die Leerstandszahlen in Ostdeutschland besonders abrupt und sichtbar. In der Folge wuchs der Leerstand in Ostdeutschland von ca. 300.000 Wohnungen im Jahr 1990 auf fast 1,3 Millionen Wohnungen im Jahr 2004, wobei für den gleichen Zeitraum ungefähr 800.000 bis eine Millionen Neubauten hinzuzurechnen sind (vgl. Oswalt 2005:  631; Hinrichs 1999: 15ff; Glock & Häußermann 2004: 921). Allein für Leipzig bedeutete dies, dass „durch Abwanderung und Geburtenrückgang innerhalb der ersten 10 Jahre nach der Vereinigung fast 100.000 Einwohner, also knapp 18% ihrer ursprünglichen Bewohner [verlor]. Leipzig hatte damit den bei weitem höchsten absoluten Bevölkerungsverlust einer Stadt in Ostdeutschland zu beklagen“ (Glock 2006: 104). Zusätzlich zu diesen Schrumpfungsprozessen wurde auch am Rand der Stadt Leipzig massiver, weil steuerlich begünstigter Wohnungsneubau betrieben, wodurch die historischen Innenstädte weiter perforierten. Dies hatte „einen flächendeckenden Wohnungsleerstand zur Folge. Im Jahr 2000 fanden 20%, also ca. 60.000 Wohneinheiten (…) keine Nutzer mehr“ (Glock 2006: 104).

Glock und Häußermann (2004: 920) resümieren: „These figures indicate that the vacancy rates go far beyond the normal ‚mobility reserve‘ (i.e. between 3% and 5%) that is supposed to be a necessary precondition for a functioning housing market. (…) High vacancies are predominantly an urban phenomenon and eastern cities are particularly hard-hit, making vacancy one of the region’s most serious urban problems“.

Anhand dieses Hintergrunds standen die direkt und indirekt bestehenden Problematiken der Stadtentwicklung in schrumpfenden Städten (wie beispielsweise das Leerfallen von öffentlichen Einrichtungen wie Kindergärten und Bibliotheken sowie die Instandhaltung der technischen Infrastrukturen wie Kanalisation) im Vordergrund. Auch wurden die Handlungszwänge der Eigentümer_innen und die eingreifenden Maßnahmen und Effekte des im Jahr 2001 aufgestellten Bund-Länder-Programm „Stadtumbau Ost“ thematisiert.

Darüber hinaus standen die vielen bürgerinitiierten Praktiken des Umgangs und der Aneignung von Leerständen im Fokus der Regionalexkursion. Besucht wurden beispielsweise die Freiraumgalerie in Halle sowie die Kulturspinnerei und der Verein HausHalten e.V. in Leipzig. Durch die Vorträge der jeweiligen Expert_innen vor Ort wurde die Thematik Immobilienleerstand und die diversen Effekte sowie Potentiale leerstehender Immobilien den Studierenden näher gebracht und praktisch erfahrbar gemacht.

Außerdem besuchten die Studierenden des Geographischen Instituts Mainz das Geographische Institut der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Gemeinsam mit Dr. Markus Bös, Manuela Lagrange und Björn Braunschweig wurde über Leerstand in Halle diskutiert und über zukünftige Kooperationsformate zwischen den Instituten gesprochen.

Busch, U., W. Kühn und K. Steinitz (2009): Entwicklung und Schrumpfung in Ostdeutschland. Aktuelle Probleme im 20. Jahr der Einheit. Hamburg.

Glock, B. (2006): Stadtpolitik in schrumpfenden Städten. Duisburg und Leipzig im Vergleich. Wiesbaden. (= Stadt, Raum und Gesellschaft, Band 23)

Glock, B. und H. Häußermann (2004): New Trends in Urban Development and Public Policy in eastern Germany: Dealing with the Vacant Housing Problem at the Local Level. In: International Journal of Urban and Regional Research 28(4): 919-929. Online: http://onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1111/j.0309-1317.2004.00560.x/epdf

Hinrichs, W. (1999): Entwicklung der Wohnverhältnisse in Ost- und Westdeutschland in den 90er Jahren. Berlin. Online: http://www.ssoar.info/ssoar/handle/document/11665

Oswalt, P. (Hrsg.) (2005): Schrumpfende Städte: Internationale Untersuchung. Band 1. Ostfildern.