Mainzer Geographische Studien, Heft 42:

Albrecht, Susanne: Der ländliche Raum Lothringens zwischen Verfall und Neubelebung. Politische Rahmenbedingungen und strukturelle Auswirkungen von Anpassungs- und Entwicklungsvorgängen in jüngerer Zeit.

 

ZUSAMMENFASSUNG

Das ländliche Lothringen ist durch weite, nur dünnbevölkerte Bereiche geprägt, die sich vor allem über die früh besiedelten Ebenen und Hügelländer des ostfranzösischen Schichtstufenlandes erstrecken. Charakteristisch für den ländlichen Raum war lange Zeit ein Regressionsvorgang, der sich zwar nicht in einem Niedergang der Landwirtschaft, jedoch in einer anhaltendenen Abwanderung und in (baulichen) Verfallserscheinungen in den Dörfern äußerte. In jüngster Zeit sind neben solchen Zeichen des Verfalls vermehrt Hinweise auf eine Neubelebung zu beobachten.

Vor diesem Hintergrund untersucht die vorliegende Arbeit jüngere Entwicklungsprozesse und deren strukturelle Auswirkungen im ländlichen Lothringen. Die Analyse regionaler sowie kleinräumig-lokaler Strukturen und Prozesse wird begleitet von der Frage nach den sie beeinflussenden übergeordneten politischen Rahmenbedingungen. Ziel ist es dabei, mit Hilfe einer Betrachtung unterschiedlicher Maßstabsebenen einen Beitrag zum Verständnis eines umfassenden Strukturwandels zu leisten. Zugleich soll mit der Analyse aktueller Entwicklungskonzepte, die sich schlagwortartig mit "développement local" umreißen lassen, der Versuch unternommen werden, zukünftige Entwicklungsperspektiven im ländlichen Raum aufzuzeigen und zu bewerten.

Aus dieser Fragestellung resultiert eine dreigliedrige methodische Konzeption der vorliegenden Arbeit. Der Analyse der übergeordneten politischen Rahmenbedingungen für die Raumentwicklung im ländlichen Frankreich folgt die Untersuchung regionaler Strukturen und Prozesse in Lothringen mit Hilfe regionalanalytischer Methoden. Empirische Grundlage bildet dabei eine Datenbank mit Strukturmerkmalen zu den demographischen Verhältnissen, der Ausstattung, der Erholungsfunktion und der Landwirtschaft für alle 2.333 Gemeinden Lothringens in Zeitreihen, die sich über die letzten 25 Jahre erstrecken. Die Daten werden zunächst mit Hilfe einfacher Verfahren der deskriptiven Statistik analysiert; die räumliche Umsetzung der Ergebnisse geschieht mit Hilfe eines Geographischen Informationssystems. Da eine Analyse auf Gemeindeebene erfolgt, können auch kleinräumig differenzierte Strukturen und Prozesse dargestellt werden. Abschließend wird versucht, auf der Grundlage eines multivariaten statistischen Verfahrens eine Raumtypisierung vorzunehmen.

Die zuvor auf der Markro- und Mesoebene durchgeführte Untersuchung wird auf der untersten Maßstabsebene exemplarisch anhand von sechs ausgewählten Einzelgemeinden weitergeführt, die unterschiedliche Strukturtypen repräsentieren und sich durch unterschiedliche Lagebeziehungen auszeichnen. Im Mittelpunkt steht hier die hauptsächlich auf der Grundlage von Gebäudekartierungen vorgenommene Analyse der baulichen Entwicklung unter besonderer Berücksichtigung jüngster Veränderungen. Dabei wird besonderes Augenmerk auf aktuelle Entwicklungsprobleme und Maßnahmen zu deren Überwindung gelegt. In diesem Zusammenhang werden abschließend die Möglichkeiten einer lokalen Entwicklung im Rahmen eines interkommunalen Verbandes am Beispiel des District du Pays de Colombey et du Sud- Toulois erörtert und einer kritischen Bewertung unterzogen.

Die Arbeit kommt dabei zu folgenden Ergebnissen:

Politische Rahmenbedingungen

Der ländliche Raum war und ist innerhalb des zentralistisch organisierten französischen Staates traditionell benachteiligt. Bis in die Gegenwart hinein wurden Raumordnung und Regionalplanung einer sektoralen, primär auf die wirtschaftliche Entwicklung ausgerichteten nationalen Planifikation untergeordnet. Die seit 1982 getroffenen Dezentralisierungsmaßnahmen haben zwar eine Gewichtsverlagerung und Aufgabenübertragung auf die Gebietskörperschaften mit sich gebracht und somit deren Interventionsmöglichkeiten erweitert. Insbesondere die kleinen ländlichen Gemeinden leiden jedoch nach wie vor unter dem Defizit an Eigenständigkeit und unter einer Finanzknappheit, die keinerlei Handlungsspielraum für zukunftsweisende Entwicklungsmaßnahmen läßt.

Die Entwicklung im ländlichen Raum wurde maßgeblich durch agrarpolitische Instrumentarien gesteuert, deren Zielsetzung die Schaffung einer hochproduktiven, exportorientierten Agrarwirtschaft ist. Der Preis für die rasche Umstrukturierung war die Beschleunigung der Abwanderung aus dem ländlichen Raum.

Zugleich haben sich seit Beginn der 70er Jahre regionalpolitische Instrumentarien herausgebildet, mit denen versucht wird, regional und lokal angepaßte integrierte Entwicklungsstrategien für den ländlichen Raum zu erarbeiten. Die Verwirklichung dieser Konzepte ist auf das engste verbunden mit der Entstehung neuer räumlicher Einheiten: Es handelt sich um sogenannte pays, Mikroregionen, in deren Rahmen man sich um eine lokale Entwicklung bemüht. Die ersten Initiativen einer solchen lokalen Entwicklung kommen "von unten", doch wurde auch das staatliche und regionale Instrumentarium im Laufe der Zeit zunehmend angepaßt. Im Rahmen eines "développement local" sollen sich lokale Initiative und extern zugesteuertes Kapital in einem dialektischen Prozeß zum Entwurf lokal angepaßter Handlungsstrategien vereinen.

Grundlage einer lokalen Entwicklung ist die interkommunale Zusammenarbeit. In Frankreich, wo sich im Unterschied zu anderen europäischen Ländern eine Kommunalreform nie durchsetzen konnte, wird heute auf einen Prozeß der fortschreitenden horizontalen Integration von selbständigen Gemeinden im Rahmen interkommunaler Verbände gesetzt.

Strukturen und Prozesse auf regionaler Ebene

Im Laufe der letzten 50 Jahre haben sich bereits bestehende räumliche Disparitäten in der Bevölkerungsverteilung weiter verstärkt: Den Verdichtungsräumen entlang der Moselachse und in Nordostlothringen lassen sich weitere Entleerungsräume vor allem im Westen und Südwesten sowie im zentralen Teil Ostlothringens gegenüberstellen. Die Bevölkerungsdichten sind hier sehr gering; infolge einer lang anhaltenden Abwanderung dominieren Klein- und Kleinstgemeinden. Während der letzten beiden Jahrzehnte kam es in diesen Enleerungsräumen zu einer markanten Umkehr des Entwicklungsprozesses: War das Bevölkerungswachstum bis in die 70er Jahre noch auf die städtischen Zentren und deren unmittelbares Einzugsgebiet beschränkt, so ist seither ein weites Ausgreifen der Stadt-Land-Wanderung in den ländlichen Raum hinein zu beobachten. Diese sich in Migrationsgewinnen ländlicher Gemeinden widerspiegelnde "Periurbanisierung" wird vor allem von der gestiegenen Mobilität und der damit einhergehenden Ausweitung der Pendlerverflechtungen getragen. Bezeichnend für die Entwicklung in jüngster Zeit (1982 bis 1990) ist, daß es zwar zu einer Abschwächung der Zuwachsraten gegenüber den vorhergehenden Jahren gekommen ist, die Periurbanisierung aber zugleich noch weiter ausgreift und selbst entlegene ländliche Gemeinden erfaßt.

Hinsichtlich der Ausstattung der Gemeinden ist zu beobachten, daß der Abzug von Versorgungseinrichtungen aus der Fläche bis in die jüngste Zeit anhält. Der Abzug betrifft den ohnehin bereits unterversorgten peripheren ländlichen Raum. Gleichzeitig findet eine Polarisierung statt, die eine Stärkung der zentralen Orte unterster Stufe gebracht hat. Insgesamt ist im Zuge einer zunehmenden Mobilität eine ausgeprägte Umbewertung der Versorgungssituation zu konstatieren: Das Fehlen einer kleinteiligen Infrastruktur wird weit weniger als früher als Mangel empfunden.

Eine Umbewertung des ländlichen Raumes ist auch hinsichtlich seiner Erholungsfunktion festzustellen. Durch Strukturmaßnahmen auf verschiedenen Ebenen wurde und wird das Erholungspotential der Region in Wert gesetzt. Diese Entwicklung, die mit einer zunehmenden Nachfrage nach Erholungsmöglichkeiten aus den benachbarten Ballungsräumen einhergeht, läßt sich anhand der von 1968 bis 1982 erheblich gestiegenen Zahl von Zweitwohnungen dokumentieren. Gemeinden mit einem hohen Anteil an Zweitwohnungen ordnen sich ringförmig um die Verdichtungsräume herum an. Ein erhöhter Zweitwohnungsanteil ist zugleich ein wichtiges strukturelles Merkmal der von der Abwanderung betroffenen Gemeinden, wo auf diese Weise ein bestehender Wohnungsüberhang teilweise kompensiert wird. Außerhalb der Fremdenverkehrsgebiete läßt sich während des Zeitraumes 1982 bis 1990 eine Abnahme des Zweitwohnungsanteils feststellen; der die städtischen Agglomerationen umgebende Kranz von Gemeinden mit hohen Anteilen an Zweitwohnungen hat sich von innen her etwas aufgelöst. Auch dieses charakteristische Raummuster spiegelt die zunehmende Mobilität wider, mit der eine Umwandlung von Zweit- in Erstwohnsitze einhergeht.

In der Landwirtschaft vollzieht sich ein bis in jüngste Zeit andauernder tiefgreifender Wandel:
Von 1970 bis 1972 reduzierte sich die Zahl der Betriebe um mehr als die Hälfte. Ausgeprägte regionale Disparitäten zeigen sich in der Betriebsgrößenstruktur: Die größten Betriebe findet man im westlichen Lothringen sowie im südlichen Plateau lorrain. Ostlothringen und die stadtnahen Bereiche dagegen sind noch stärker durch ein Arbeiterbauerntum und folglich durch geringere Betriebsgrößen geprägt. In den Jahren von 1979 bis 1988 konzentriert sich die rückläufige Entwicklung der Betriebszahlen vor allem auf die östliche Hälfte Lothringens, wo der strukturelle Anpassungsprozeß noch nicht so weit wie im Westen fortgeschritten ist.

Die jüngste Entwicklung, die leider noch nicht anhand einer Vollerhebung für alle Gemeinden aufgezeigt werden konnte, ist nochmals von einem deutlichen Ansteig der Betriebsgrößen gekennzeichnet: Vor allem über die Milchquote wurde der betriebliche Konzentrationsprozeß weiter beschleunigt. Außerhalb traditioneller Problemräume wie den Mittelgebirgsgebieten kündigt sich damit endgültig die Entwicklung zu einer industriell geprägten Agrarproduktion an.

Mit der Veränderung der Agrarstruktur geht auch ein erheblicher kulturlandschaftlicher Wandel einher: Während im Westen durch Flurbereinigungen bereits eine starke Anpassung an die betriebliche Konzentration erfolgte, persistieren im östlichen Lothringen noch die überkommenen Strukturen. Die Umstrukturierung in der Agrarwirtschaft hat schließlich maßgeblich zur Abwanderung beigetragen, von der die Kleinstgemeinden am stärksten betroffen waren; vielfach ist hier eine Entwicklung hin zu einer bäuerlichen Restbevölkerung festzustellen.

Anhand der im Rahmen der Faktorenanalyse aus ausgewählten Einzelmerkmalen errechneten "Hintergrundvariablen" lassen sich strukturelle Disparitäten kleinräumlich differenziert betrachten. Der erste von insgesamt vier Faktoren, der sich mit dem Begriff "Strukturschwäche" umschreiben läßt, erlaubt im Gegensatz zu der Raumkategorie des "rural profond" des INSEE eine weitaus differenziertere Aussage über räumliche Disparitäten. Eine solche ist vor allem in Hinblick auf einen Entwurf regional und lokal angepaßter Entwicklungsstrategien von Bedeutung; insbesondere die Kleingemeinden bedürfen dringend angepaßter Förderinstrumentarien.

Abschließend wurde aufgezeigt, wie das Konzept einer lokalen Entwicklung in den regionalen Kontext eingreift: In den letzten Jahren haben sich innerhalb Lothringens zahlreiche Mikroregionen in Form unterschiedlicher interkommunaler Verbände herausgebildet, die in ihrer Größe etwa den Kantonen entsprechen, sich jedoch nicht mit diesen decken. Der Prozeß der Mikroregionalisierung stellt ein sehr komplexes und dynamisches Geschehen dar, das von der spezifischen Förderpolitik der einzelnen Departements in starkem Maße beeinflußt wird.

Entwicklung auf lokaler Ebene

Bei der Untersuchung der Siedlungsentwicklung hat sich ergeben, daß in allen exemplarisch ausgewählten Gemeinden noch Merkmale einer regressiven Entwicklung fortbestehen. Der Regressionsprozeß hat in allen Beispielgemeinden zu einer charakteristischen Überformung des überkommenen Ortsbildes geführt, bei der die Überprägung und Degradierung der Bausubstanz infolge der Umstrukturierungen in der Landwirtschaft eine wichtige Rolle spielt. Durch Vergleichskartierungen im zeitlichen Abstand weniger Jahre konnte gezeigt werden, daß dieser Prozeß mittlerweile zum Stillstand gekommen ist. Gleichzeitig ist im Zuge einer Umbewertung des ländlichen Raumes eine Wiederbelebung und Erneuerung der Bausubstanz zu beobachten. Diese verläuft partiell, so daß sich Indikatoren regressiver und progressiver Tendenzen räumlich eng verzahnen. Gerade dies ist charakteristisch für den gegenwärtig im Rahmen eines allgemeinen Strukturwandels erfolgenden umfassenden Kulturlandschaftsumbau.

In allen exemplarisch untersuchten Gemeinden ist ein gewisses Entwicklungspotential vorhanden. Dennoch bleibt die Situation gerade für viele Kleingemeinden prekär. Es ist wichtig, gerade für kleine und weniger dynamische Gemeinden angepaßte Entwicklungskonzepte zu finden, mit denen zum Beispiel ein Überhang an Wohnraum in Wert gesetzt oder eine Folgenutzung für durch die Umstrukturierung in der Landwirtschaft freigesetzte Gebäude gefunden wird.

Am Beispiel des District du Pays de Colombey et du Sud-Toulois wird abschließend gezeigt, wie der Prozeß einer fortschreitenden horizontalen Integration auf Gemeindeebene zur Entstehung einer Mikroregion, eines pays, geführt hat, das als räumlicher Identifikationsrahmen von entscheidender Bedeutung für die Wahrnehmung und Inwertsetzung eines lokalen Entwicklungspotentials ist.

Im Rahmen des untersuchten Districts konnte insbesondere im wirtschaftichen Bereich eine sehr vorteilhafte und dynamische Entwicklung initiiert werden, von der selbst die entlegeneren Gemeinden profitieren. Spezielle staatliche Fördermittel, die gegenwärtig als Anreiz zur Bildung stärker integrierter interkommunaler Verbände vergeben werden, spielten dabei eine sehr wichtige Rolle. Angesicht des Fehlens einer ausreichenden eigenen finanziellen Basis erscheint die zukünftige Entwicklung noch unsicher. Die bereits auf der kommunalen Ebene aufgezeigten Probleme der mangelhaften finanziellen Ausstattung und der Persistenz zentralistischer Strukturen, die einen Mangel an regionaler und lokaler Autonomie impliziert, setzt sich somit auch auf der Ebene der interkommunalen Verbände fort.

Das Konzept des développement local spielt eine bedeutende Rolle im Prozeß der Neubelebung des ländlichen Raumes. Problematisch bleibt dabei, daß dort, wo sich dieses Konzept nicht durchsetzt, die Gefahr einer zusätzlichen Marginalisierung besteht. Positiv zu bewerten ist die gegenwärtig erfolgende Umstrukturierung auf unterster räumlicher Ebene, die eine Inwertsetzung lokaler Entwicklungspotentiale ermöglicht. Eine grundlegende Umstrukturierung zugunsten lokaler und regionaler Autonomien im Rahmen des überkommenen zentralistischen Systems wäre notwendig, ist aber bislang ausgeblieben. Gleichwohl stellt die Entstehung von Mikroregionen, die sich um eine eigenständige Entwicklung bemühen, ein bedeutendes Potential für die Integration der Region in einen grenzüberschreitenden Kontext und damit für die Überwindung der Grenz- und Peripheriesituation Lothringens dar.